
„Bevor der Hund hungert, hungere ich!“
Sozialprojekte gibt es in Wien heute schon viele. Eine private Initiative nimmt sich der Unterstützung von bedürftigen Tierhalter an. Ein Lokalaugenschein bei einem Sozialprojekt der besonderen Art.
Hunde bellen. Stimmen sind zu hören. Ein Kleinbus parkt auf einer Spur unter der Schnellbahnbrücke am Bahnhof Praterstern – gleich neben dem Lieferanteneingang eines Supermarktes. Ein Zug donnert über die Brücke. Doch das beeindruckt Michael Ruttner kaum. Er kennt die Umgebung und auch an den Lärm hat er sich bereits gewöhnt. Ihm gehört der Kleinbus. Gemeinsam mit seiner Frau und der Tierfreundin Erika baut er einen Klapptisch vor dem Wagen auf. Auch öffnet er die Heckklappe des Wagens und lädt daraus Kartons aus. Der Sozialmarkt für obdachlose Tierhalter öffnet wieder seine Pforten.
Seine Klienten lassen nicht lange auf sich warten: Spitzmischling Gina etwa ist neun Jahre alt. Ihre Augen sehen sich um, ihre Nase schnuppert neugierig. „Mit ihr komme ich immer her“, freut sich ihr Besitzer. Nicht nur sie – auch er kenne hier bereits alle: Michael und sein Team, andere Hunde und deren Besitzer. „Ich schaue mich heute mal um. Vielleicht ist wieder etwas Passendes für uns dabei“, erzählt er. Geduldig wartet er mit ihr beim vor dem Bus aufgebauten Klapptisch, bis sie an der Reihe sind. „Sie ist meine Begleiterin.“ Anfang des Jahres wurde er von der Firma gekündigt, erzählt er. Er arbeitete im Vertrieb. Heute muss er mit der Sozialhilfe seine Lebenskosten bestreiten: Miete, Strom und Gas zahlen, Lebensmittel kaufen. Für Gina bleibt nicht viel übrig. Hier aber findet er immer etwas, das er für seine „Lebensgefährtin“ braucht. Er lächelt zufrieden, nimmt sich einen Sack Tierfutter, manövriert diesen vorsichtig in ein Plastiksackerl. Von allen anderen unbemerkt gehen sie wieder Richtung U-Bahn-Zugang.
Die Vierbeiner sind los
Seit vergangenen Jänner organisiert Michael beim Bahnhof Praterstern ein Projekt für obdachlose und mittellose Tierhalter. Hier verteilt er einmal im Monat Katzen- oder Hundefutter an Bedürftige und Obdachlose. Auch Leinen, Beißkörbe oder Spielzeug warten hier auf die Vierbeiner. Michael klettert immer wieder in den Transporter, holt Nachschub an Tierfutter, sortiert nach. „Ich bereite mich schon auf den nächsten Ansturm vor.“
Der Strom an Tieren und ihren Besitzern reißt auch heute nicht ab. Alle, die kommen, stellen sich beim Klapptisch an. Michaels Frau Renate erfasst in ihrem Ringordner jeden. Der Ordner ist mittlerweile dick: über 200 Hilfsbedürftige sind darin erfasst. Renate legt sie unter dem Namen der Tiere ab – vermerkt ihr Alter und Rasse. „Ich brauche Futter für Heide und Athos“, spricht sie ein Klient an. Seite um Seite arbeitet sich Renate durch den Ordner, bis sie vom Besitzer die entsprechende Karteikarte findet. „Letztes Mal gab es viele Neuregistrierungen“, erinnert sie sich. „Unser Projekt kommt an und findet den Weg zu den Bedürftigen.“ Wenige, die kommen, leben aber auf der Straße, weiß sie.
Michael: „Ich versuche mit den Hundebesitzern ins Gespräch zu kommen, frage sie, wie es ihrem Vierbeiner geht.“ Oft seien ihm bei dem einen oder anderen Vierbeiner schon die langen Krallen aufgefallen. Die Hunde werden von den Besitzern umsorgt, erzählt er. Sie sind das einzige, was viele noch haben. Verwahrloste oder unterernährte Hunde habe er hier noch keine gesehen. Brauchen die Tiere jedoch einen Tierarzt, vermittelt er seine Klienten an das Neunerhaus weiter, wo mehrmals in der Woche ein Tierarzt ordiniert. Michael: „Info-Flyer davon habe ich immer bei mir.“
Haustiere als Beziehungsersatz
Weshalb halten Obdachlose oder Bedürftige Haustiere, obwohl sie sich offenbar kaum um sie sorgen können? „Sie sind Randgruppen und werden von der Gesellschaft oft abgelehnt oder ausgeschlossen“, erzählt Elisabeth Kury vom Verein Tiere als Therapie (TAT) an der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Ein Haustier schenkt Zuneigung und wertet nicht nach menschlichen Kriterien; auch akzeptiert es seinen Halter bedingungslos, hält ihm die Treue, so Elisabeth Kury. Das erhöhe die Bindung zwischen Tier und Mensch. Auch den gesellschaftlichen Status erkenne ein Tier nicht. Hunde sind sozial lebende Tiere, sie suchen daher die Beziehung zum Menschen, so Elisabeth Kury. Diese Menschen denken, ich kann wenigstens für mein Haustier sorgen; wenn schon nicht für mich. „Das fördert bei vielen Obdachlosen und Bedürftigen den Selbstwert“, so Elisabeth Kury. Für viele ist daher das Haustier der vielleicht letzte Lebensinhalt – und oft auch Partner, der ihnen „zuhört“. Ohne das Haustier lassen sich viele „oft fallen“, weiß Elisabeth Kury. Die meisten Obdachlosen würden eher auf der Straße bleiben, als ohne ihre Tiere in eine der Wohnungslosenunterkünfte einzuziehen. Vor zwei Jahren rief der Verein TAT gemeinsam mit der Volkshilfe ein Wohnprojekt ins Leben. Obdachlose durften in die Miniwohnung auch ihre Hunde, Katzen oder Vögel mitnehmen. Elisabeth Kury: „Dieses Projekt schlug Wellen.“
Auch ins Neunerhaus, einer Hilfsorganisation in Wien, dürfen obdachlose Menschen mit ihren Tieren einziehen. „Wir waren die erste Obdach- und Wohnungsloseneinrichtung, die Tiere in ihren Unterkünften zugelassen haben“, sagt Nikolaus Kunrath, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit im Neunerhaus.
Das Letzte geben
„Bevor der Hund hungert, hungere ich“, erzählt der Besitzer von Gina. Sein Hund sei sein Begleiter. Auch in schwierigen Zeiten. „Wir halten zusammen.“ Freunden und Bekannten habe er bereits von diesem „Sozialmarkt“ erzählt.
Auch die Besitzerin von Bosko, einem Schäfermischling, ist heute wieder da. Sie erzählt begeistert, dass sie hier Beißkorb, Zeckenmittel und Bürsten erhalten habe, auch wurde sie gut beraten. Ohne Arbeit sei es für sie heute schwer durchzukommen. Alles sei sehr teuer – besonders das Hundefutter. „Ich komme mit einem 14-Kilo Sack Trockenfutter für meinen Hund locker einen Monat aus“, sagt sie. „Ich würde alles für meinen Hund geben“, erzählt sie. „Auch für sie hungern.“ Aber nein – weggeben möchte sie ihren Liebling keinesfalls. Er ist ihr ans Herz gewachsen.
„Brauchen Sie Trocken- oder Nassfutter“, fragt Michael eine Klientin. Animalfriends.at ist nicht nur für die Tiere da, sondern auch für die Halter. „Wir haben auch immer Kuchen hier“, betont er. Viele seiner Klienten kennt er bereits – und sie kennen Michael. Oft kommen sie zurück, bedanken sich bei ihm persönlich. Viele wollen reden – mit ihm oder seinen Helfern.
Über 50 Klienten kommen an einem Samstag wie diesen; über 200 sind registriert. Michael hat dieses Projekt vom Verein „Tierfreude“ übernommen, erzählt er. Mit seinem Verein animalfriends.at möchte er diese Arbeit fortsetzen, das Praterstern-Projekt weiter ausbauen.
Leben für die Tiere
Michael streichelt einen Dackel. Ja, er arbeite bereits an einer Website. Die Facebookseite animalfriends.at sei bereits aktiv. Auch möchte er Sponsoren ansprechen, die günstig oder kostenlos Tierfutter seinem Verein zur Verfügung stellen , so Michael. Viele Freunde und Bekannte bringen ihm Sachspenden. Mit Geldspenden kauft er Tierfutter. Er sammelt alles in seiner Garage und verteilt sie dann hier am Bahnhof Praterstern. Tiere sind ihm ein Anliegen. Seit Jahren schon fährt nach Ungarn und Serbien und kümmert sich dort um die Versorgung von Straßenhunden in Tierheimen.
Die letzten Hundebesitzer verlassen den Praterstern. Michael klappt den Tisch wieder zusammen, schiebt diesen in den Kleinbus. Auch die Kartons verstaut er darin wieder. „Wir stehen hier nie im Regen“, lacht Michael. „Die Brücke schützt uns.“ Aber auch seine Spender lassen ihn und seine Schützlinge nicht im Stich.
erschienen in der FURCHE 43/2017